Stellt ein Bieter fest oder meint er, die Vergabestelle hätte einen Verfahrensfehler begangen, z.B. ihn fälschlich vom Verfahren ausgeschlossen, wendet sich der Bieter an die Vergabestelle und meldet seine Bedenken an. Die Formalien, die dazu zu beachten sind, werden in Teil 2 dieser Serie näher erläutert.
Von einer Rüge zu unterscheiden sind Bieterfragen oder Hinweise, die (noch) keine Rüge enthalten. Bestehen auf Bieterseite Zweifel, ob die Vergabeunterlagen in eine bestimmte Richtung zu verstehen sind, sollte der Sachverhalt immer zuerst im Rahmen von Bieterfragen geklärt werden, bevor gerügt wird.
Was bedeutet Rügepflicht?
Eine Pflicht zur Rüge besteht insbesondere bei EU-weiten Vergabeverfahren, um den vergaberechtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen zu können. Rügt der Bieter den vermeintlichen Vergabeverstoß nicht, kann er auch später wegen dieses Verstoßes keinen Nachprüfungsantrag mehr bei der Vergabekammer einreichen, bzw. wäre dieser Antrag unzulässig (§ 107 Abs. 3 GWB). Der Bieter kann die Zuschlagserteilung dann nicht mehr verhindern.
Die Rügepflicht entsteht immer dann, wenn der Bieter den Vergabeverstoß „erkennt“. Maßgebend für die Frage, ob ein Bieter einen Verstoß überhaupt erkennen konnte, sind nicht nur die Art des Verstoßes, sondern auch, ob und in welchem Umfang der Bieter Erfahrungen mit Vergabeverfahren hat. Wenn der Vergabeverstoß in der Bekanntmachung bzw. in den Vergabeunterlagen enthalten ist, reicht es aus, dass der Vergabeverstoß für den Bieter „erkennbar“ war.
In wie weit auch im Bereich unterhalb der Schwellenwerte gerügt werden muss, wird in Teil 3 der Serie näher erläutert.
Was passiert bei einer Rüge, was sind die Folgen?
Mit der Rüge wird die Vergabestelle aufgefordert, ihre Vergabeentscheidung erneut zu prüfen bzw. dem Vergaberechtsverstoß abzuhelfen. Es besteht zwar keine Pflicht der Vergabestelle, auf die Rüge zu antworten bzw. die Beanstandungen zu prüfen. Die Vergabestellen nehmen Rügen allerdings in der Praxis sehr ernst und prüfen in der Regel die vorgebrachten Einwendungen genau.
Lehnt die Vergabestelle die Rüge als unbegründet ab, hat der Bieter bei EU-weiten Vergabeverfahren 15 Tage Zeit, um einen Nachprüfungsantrag einzulegen (§ 107 Abs. 3 Nr. 4 GWB). Überschreitet der Bieter diese Frist, ist der Nachprüfungsantrag trotz unter Umständen berechtigter Rüge unzulässig.
Hält die Vergabestelle die Rüge für gerechtfertigt, ändert sie ihre Entscheidung bzw. wiederholt den Verfahrensschritt, in dem der Fehler festgestellt wurde.
Informationen und Beratung zum Vergaberecht erhalten Sie bei FPS Rechtsanwälte und Notare, Berlin, Frankfurt, Hamburg, Düsseldorf, unter vergaberecht@fps-law.de
Die Rüge ist ein kostengünstiges Rechtsmittel im Vergabeverfahren, mit dem Bieter öffentliche Auftraggeber oder Vergabestellen auf Vergabefehler hinweisen und im besten Fall eine Korrektur von Vergabeentscheidungen erreichen können.
Rügen haben dabei zwei Funktionen. Die Rüge dient erstens dazu, dem Auftraggeber Gelegenheit zu geben, Vergabefehler selbst zu korrigieren (Selbstkontrolle). Zweitens ist die Rüge Voraussetzung dafür, dass Rechtsschutz vor den Vergabekammern gewährt wird.
Bieterfragen sind keine Rügen. Mit Bieterfragen wenden sich Bieter beispielsweise bei Unklarheiten an den Auftraggeber und bitten um Aufklärung. Eine Antwort der Vergabestelle auf eine Bieterfrage kann aber Anlass geben, eine Rüge auszulösen.
Was kann gerügt werden?
Es können nur Verstöße des Auftraggebers gegen Vergabevorschriften gerügt werden, die dem Schutz der Bieter dienen (sog. Bieterschutz). Das sind die meisten Vergabevorschriften; das Vergaberecht gewährt den Bietern einen Anspruch auf Einhaltung der Vergabebestimmungen (vgl. § 97 Abs. 6 GWB).
Zu rügende Vergabeverstöße sind beispielsweise Diskriminierungen (Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte, selektive Informationsübermittelung, Besichtigungstermine nur mit einigen Bietern, ungleiche Dauer von Aufklärungsgesprächen), zu kurze Fristen, unerfüllbare Anforderungen, fehlende kalkulationsrelevante Informationen oder ungerechtfertigte Angebotsausschlüsse etc.
Als Grundregel gilt, dass jede rechtswidrige Benachteiligung im Vergabeverfahren gerügt werden kann. Vorschriften außerhalb des Vergaberechts können aber nicht gerügt werden (z.B. die Verletzung von PBefG-Normen, die beispielsweise die Klärung des Vorrangs der Eigenwirtschaftlichkeit vor einer Ausschreibung von Busverkehren vorsehen); regelmäßig werden die Vergabekammern entsprechende Einwände auch nicht prüfen.
Was bedeutet Rügeobliegenheit?
Für den Bieter besteht keine Pflicht zur Rüge. Es besteht aber eine Rügeobliegenheit. Gemeint ist damit, dass das Unterlassen einer (rechtzeitigen) Rüge negative Folgen für den Bieter hat, weil die Rüge Voraussetzung für den Gang vor die Vergabekammer ist (Zulässigkeitsvoraussetzung, § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB). Wird ein Verstoß durch den Bieter erkannt, aber nicht gerügt, kann sich der Bieter im nachfolgenden Verfahren nicht mehr auf den Verstoß berufen. Das nennt man auch Präklusion.
Die Rügeobliegenheit wird ausgelöst, wenn ein Bieter einen Vergabeverstoß erkannt (positive Kenntnis) und gegenüber dem Auftraggeber nicht innerhalb einer Frist von zehn Kalendertagen (bzw. den Höchstfristen nach § 160 Abs. 3 Nr. 2, 3 GWB) rügt. Dabei darf sich der Bieter vor dem Erkennen nicht „mutwillig verschließen“. Für die Frage, ob ein Vergabeverstoß vom Bieter erkannt werden konnte, kommt es auf Faktoren wie die Art des Verstoßes und die Erfahrung des Bieters mit Vergabeverfahren an. Einige Verstöße werden auch erst dann „erkannt“, wenn sich ein Bieter anwaltlich beraten lässt.
Was passiert nach der Rüge?
Ein Auftraggeber wird durch die Rüge angehalten, das eigene Vergabeverhalten zu überprüfen (Selbstkontrolle). Dazu besteht zwar keine Verpflichtung, in der Praxis findet die Selbstkontrolle aber regelmäßig statt. Kommt der Auftraggeber dabei zu dem Ergebnis, dass die Einwände des Bieters zutreffen, hilft er der Rüge z.B. durch Änderung der Vergabeunterlagen, ab. Kommt er hingegen zu dem Ergebnis, dass die Rüge unbegründet ist, teilt er dies durch eine Nichtabhilfemitteilung mit.
Nach der Nichtabhilfemitteilung hat ein Bieter 15 Kalendertage (bzw. 10 Kalendertage bei Vorabinformation nach § 134 Abs. 2 GWB) Zeit, um bei der Vergabekammer einen Nachprüfungsantrag einzureichen. Ein verspäteter Nachprüfungsantrag ist unzulässig.
Dr. Corina Jürschik ist seit 2013 Rechtsanwältin und Fachanwältin für Vergaberecht in der Kanzlei OPPENLÄNDER Rechtsanwälte in Stuttgart. Im Vergaberecht berät sie Bieter bei der Durchsetzung ihrer vergaberechtlichen Ansprüche sowie öffentliche Auftraggeber bei der rechtssicheren Gestaltung von Vergabeverfahren. Sie publiziert regelmäßig im Bereich Vergaberecht und hält Fachvorträge.