Fehlt eine ordnungsgemäße Auftragswertschätzung, wird der Wert von der Vergabekammer ermittelt.
Was ist passiert?
Der AG schrieb 2019 im Wege einer nationalen Ausschreibung für den Neubau eines Fußgängerstegs die Leistungen „Stahlbau“, „Rohbau“, „Elektrotechnik“ und „Erdbau“ öffentlich aus. Er legte seiner Auftragswertschätzung eine Kostenberechnung aus dem Jahr 2018 zugrunde. Die zu erwartende Preiserhöhung wurde mit einem Aufschlag von 5 Prozent berücksichtigt. Außerdem stellte der AG nach Bekanntmachung der Ausschreibung aber vor Ablauf der Angebotsfrist noch ein aktuell bepreistes Leistungsverzeichnis auf.
Das einzige eingereichte Angebot überstieg einerseits das bepreiste Leistungsverzeichnis um 237 Prozent und andererseits den Schwellenwert für eine europaweite Vergabe. Wegen fehlender Finanzmittel hob der AG die Ausschreibung auf.
Der einzige Bieter rügte dies und stellte Nachprüfungsantrag.
Was wurde entschieden
Der Nachprüfungsantrag war – jedenfalls teilweise – erfolgreich.
Die VK bejahte zunächst trotz Unterschwellenvergabe ihre Zuständigkeit wegen des Überschreitens des Schwellenwerts. Wegen des Fehlens einer ordnungsgemäßen Auftragswertschätzung ermittelte dieses die VK selbständig mit dem Ergebnis, dass sie ihre Zuständigkeit bejahte.
Sodann entschied die VK, dass die Aufhebung des Vergabeverfahrens rechtswidrig war, da keiner der Aufhebungsgründe des § 17 EU VOB/A vorlag. Trotz der festgestellten Rechtswidrigkeit war die Aufhebung wirksam, weil der AG sich auf einen sachlichen Grund berufen konnte.
Die Vergabekammer stellte fest, dass die Kostenberechnung aus dem Jahr 2018 keine ordnungsgemäße Grundlage für eine Auftragswertschätzung darstellte, denn diese war schon zum Zeitpunkt der Ausschreibung überholt. Auch das bepreiste Leistungsverzeichnis war ungeeignet, da es erst aufgestellt wurde, nachdem die Ausschreibung bereits öffentlich bekannt gemacht war. Dementsprechend liegt keiner der anerkannten Aufhebungsgründe nach § 17 VOB/A vor. Weil aber die Aufhebung nicht willkürlich, sondern wegen der fehlenden Finanzierbarkeit sachlich begründet erfolgt, ist sie wirksam.
Praxistipp
Öffentliche Auftraggeber sollten Wert legen auf eine sorgfältige Auftragswertschätzung. Die Auftragswertschätzung sollte unter Beachtung des § 3 VgV entweder erst unmittelbar vor Bekanntmachung erfolgten, jedenfalls muss zu diesem Zeitpunkt eine wirklichkeitsnahe Überprüfung einer bereits vorhandenen Schätzung erfolgen.
Autor:
Rechtsanwalt Ronny Lohmann ist einer der Partner von Vergabekanzlei abante Rechtsanwälte Kins Lohmann PartG mbB in Leipzig. Seit Jahr 2005 arbeitet er als selbständiger Rechtsanwalt. Seine Tätigkeitsbereiche:
- Vergaberecht, projektbegleitende Rechtsberatung (Bau/Planung, ITK)
- Privates und öffentliches Baurecht
- Grundstücksrecht / Leitungsrechte / Gestattung / Grundbuchbereinigung
- Recht der Versorgungswirtschaft / technischen Infrastruktur/
- Breitband- und Telekommunikationsrecht, Vertragsrecht.
Weitere Informationen
Datum: 31.01.2020
Gericht: VK BW Beschluss
Aktenzeichen: 1VK69/19
Typ: Beschluss