Fachbeitrag

Rügen unterhalb der Schwelle

In diesem Beitrag wird ein Überblick dazu gegeben, in welchen Konstellationen die Rügepflicht ausnahmsweise nicht besteht. Außerdem wird die Frage geklärt, ob auch in Vergabeverfahren unterhalb der EU-Schwellenwerte zu rügen ist und was man dabei beachten muss.

Sie müssen nicht immer rügen!

Eine rechtzeitige Rüge ist regelmäßig Voraussetzung dafür, dass ein Bieter in einem nachfolgenden Nachprüfungsverfahren Rechtsschutz erlangen kann. Es wird deshalb von Rügeobliegenheit gesprochen (Mehr dazu: Bedeutung und Folgen einer Rüge). Nur in wenigen Ausnahmefällen können Bieter von einer Rüge absehen, ohne negative Folgen bei der Rechtsdurchsetzung zu haben.

Die prominenteste Ausnahme von der Rügepflicht ergibt sich aus dem Gesetz und zwar aus § 160 Abs. 3 Satz 2 GWB i.V.m. § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB. Danach gilt das Rügeerfordernis nicht, wenn ein öffentlicher Auftraggeber den Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben hat, ohne dass dies aufgrund Gesetz gestattet ist (sog. De-facto-Vergabe).

Hintergrund ist die Überlegung, dass Interessenten an einem Auftrag häufig erst nach einer erfolgten De-facto-Vergabe Kenntnis davon erlangen. Eine Rüge kommt dann zu spät. In diesem Fall kann ohne Rüge der Nachprüfungsantrag mit dem Ziel gestellt werden, den geschlossenen Vertrag innerhalb der Fristen des § 135 Abs. 2 GWB von der Vergabekammer für unwirksam erklären zu lassen.

ABER: Keine Ausnahme ohne Ausnahme von der Ausnahme. Rügen sind nach weiten Teilen der Rechtsprechung ausnahmsweise auch bei De-facto-Vergaben zwingende Voraussetzung für den Gang zur Vergabekammer, wenn der Bieter von der vergaberechtswidrigen Auftragsvergabe Kenntnis hat. Das ist etwa der Fall, wenn er an dem vergaberechtswidrigen Verfahren beteiligt wurde. Die De-facto-Vergabe ist dann zu rügen.

Neben den gesetzlichen Ausnahmen von der Rügeobliegenheit hat auch die Rechtsprechung Fallgruppen gebildet, bei denen eine Rüge entbehrlich sein kann. So kann beispielsweise auf die Rüge eines Verstoßes verzichtet werden, der erst im Nachprüfungsverfahren (z.B. bei der Akteneinsicht) erkannt wird.

Eine Rüge kann ausnahmsweise auch dann nicht erforderlich sein, wenn der öffentliche Auftraggeber eindeutig (und nachweisbar) zu erkennen gibt, dass er unumstößlich an seinem Verhalten festhalten will und eine Rüge damit von vorherein nur reine „Förmelei“ wäre. An diese Ausnahme sind aber strenge Maßstäbe anzulegen; die Voraussetzungen werden in den wenigsten Fällen vorliegen. Es sollte deshalb auch dann gerügt werden, wenn der Bieter die Rüge als Förmelei einstuft.

Die Rügeobliegenheit entfällt im Übrigen nicht aufgrund zu kurzer Fristen oder der unmittelbar bevorstehenden Zuschlagserteilung. Die Grundregel lautet vielmehr, dass jeder (erkannte) Vergaberechtsverstoß zu rügen ist, um keine Rechtsschutznachteile im weiteren Verfahren zu riskieren.

Und wie ist es unterhalb der Schwellenwerte?

Eine Sonderstellung haben Rügen in Vergabeverfahren unterhalb der EU-Schwellenwerte. Unterhalb der EU-Schwellenwerte ist die Rügepflicht gesetzlich nicht geregelt; § 160 Abs. 3 GWB gilt unterhalb der EU-Schwellenwerte nicht.

Weite Teile der Rechtsprechung halten eine Rüge bei Vergabeverfahren unterhalb der EU-Schwellenwerte aber trotzdem für eine Voraussetzung dafür, dass Primärrechtsschutz gewährt wird (vgl. OLG Saarbrücken, Urteil vom 28.01.2015, 1 U 123/14, Rn. 52; LG Bielefeld, Urteil vom 27.02.2014 – 1 O 23/14, Rn. 49), also beispielsweise der Zuschlag untersagt wird.

Das stützt sich teilweise auf eine „analoge“ Anwendung der GWB-Vorschriften, die oberhalb der EU-Schwellenwerte gelten, oder auf Rücksichtnahmepflichten des Auftraggebers gegenüber den potentiellen Auftragnehmern.

Es gilt deshalb, dass auch unterhalb der EU-Schwellenwerte Vergaberechtsverstöße gerügt werden müssen, wenn Rechtsschutz erlangt werden soll. Für die Rüge gelten die gleichen Anforderungen, die auch oberhalb der EU-Schwellenwert gelten. Lesen Sie dazu auch den Beitrag Formalien und Fristen einer Rüge.

Autor

Dr. Corina Jürschik ist seit 2013 Rechtsanwältin und Fachanwältin für Vergaberecht in der Kanzlei OPPENLÄNDER Rechtsanwälte in Stuttgart. Im Vergaberecht berät sie Bieter bei der Durchsetzung ihrer vergaberechtlichen Ansprüche sowie öffentliche Auftraggeber bei der rechtssicheren Gestaltung von Vergabeverfahren. Sie publiziert regelmäßig im Bereich Vergaberecht und hält Fachvorträge.

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